Am 11. April 1945 wurde das Strafgefängnis Wolfenbüttel durch amerikanische Truppen befreit.
In seinen 2018 erschienen lebensgeschichtlichen Erinnerungen beschreibt Jean-Luc Bellanger, der als politischer Gefangener von 1942 bis zur Befreiung 1945 in Wolfenbüttel inhaftiert war, diese bedeutungsvollen Tage: „Eines Morgens (es war der 11. April 1945, ein unvergessliches Datum), ertönte die Alarmsirene. (…) Was würde nun passieren, nach diesem vielversprechenden Panzeralarm? Seltsamerweise geschah erst einmal lange Zeit gar nichts. Wir waren alle in den Einzel- oder Gemeinschaftszellen eingeschlossen. Die vertrauten Geräusche, die das Funktionieren der Einrichtung anzeigten, waren nicht zu hören. Es wurde kein Essen ausgegeben. Eine befremdliche Stille herrschte, und jeder versuchte sich auszumalen, was geschehen könnte. Auf einmal erregten Lärm, Rufe, und eine Art Stimmengewirr meine Aufmerksamkeit. Von meinem Tisch, auf den ich gestiegen war, blickte ich durchs Fenster, das zum Garten hin lag.
Und plötzlich erblickte ich ihn, wie er da entlang ging: ein kleiner Kerl in Khaki, ein Soldat in einer Uniform, die ich nicht kannte. Er ging schnell und verschwand im „Grauen Haus“, dem Gebäude gegenüber. Bei uns gingen die Schreie, Rufe und Schläge gegen Türen immer weiter. Aber dieses Zwischenspiel dauerte nicht mehr sehr lang, jedenfalls in meiner Erinnerung. Dann näherten sich Schritte, ich hörte das Geräusch von Schlüsseln, die in Türschlössern gedreht wurden, und schließlich öffnete sich meine Tür. (…) Jetzt hatte jeder einen Wunsch, den er sich vor allen anderen erfüllen wollte. Die einen stürzten in die Küche, um endlich nach Herzenslust zu essen. Es überfiel sie wie eine heftige, unbezwingliche Naturgewalt. Die Schweine des Gefängnisses fielen dieser alsbald zum Opfer und wurden an Feuern gebraten, die in einem wilden Rausch an allen möglichen Stellen entfacht worden waren, begleitet von lang vergessenen Düften. Andere hatten die Türen aufgebrochen – und Säcke voll Mehl und Zucker, alles, was essbar war oder auch nicht, wurde auf der Stelle geplündert. (…) Aber nun konnte man auf einmal etwas Unvorstellbares bemerken: im ganzen Gefängnis war kein einziger Aufsichtsbeamter mehr zu sehen. Sie waren alle getürmt und hatten sich in Sicherheit gebracht. Diese überheblichen, herumbrüllenden Machtprotze hatten sich versteckt!“ (Bellanger, Jean Luc: Feinbegünstigung. Wallstein Verlag: Göttingen 2018, S. 231f.)
Bis Ende April wurden 1000 Häftlinge durch die amerikanischen Truppen entlassen oder entließen sich selbst. Die Befreiung des Strafgefängnisses bedeutete jedoch keinesfalls für alle Inhaftierte das Ende ihrer Gefangenschaft. Bestimmte Paragrafen wie beispielsweise der §175 RStGb in seiner verschärften Form hatten bis weit über Kriegsende hinaus Bestand. Daher blieben als sogenannte “Gewohnheitsverbrecher” oder wegen homosexueller Handlungen Verurteilte weiterhin in Haft.
Einige politische Gefangene blieben noch vor Ort und unterstützten die Amerikaner bei der Versorgung der vielen Gefangenen, die sich oft in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand befanden. Zum Zustand der Gefangenen sagte Dr. Walter Kalthöner, der am 8. April 1945 als Anstaltsarzt eingesetzt wurde: „Der Gesundheitszustand der Gefangenen war erschreckend, als ich mein Amt antrat. Die meisten der Gefangenen waren halb verhungert, alle waren völlig verlaust und verflöht. Ich stellte über 60 Fälle von Lungentuberkulose fest, außerdem gab es einige hundert Ruhrkranke.“ (Aus den Ermittlungsakten der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig, 1945. In: Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Wolfenbüttel 42 A Neu Fb. 3 Nr. 123.)
Unter den Inhaftierten, die vorläufig zur Versorgung der Gefangenen in Wolfenbüttel blieben, war auch Dr. André Charon. Er war im belgischen Widerstand aktiv und von einem Feldkriegsgericht wegen der Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation und des Vertriebs von Flugblättern zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. In einem 1991 geführten Interview sagte er über diese Zeit: „Nach der Befreiung hat man mich gefragt, ob ich nicht mitmachen wollte in der Mannschaft, die das Lager geleitet hat und für Verpflegung gesorgt hat.“ [Interview mit André Charon, 3. Oktober 1991 (Übersetzung, Auszug) CEGESOMA Brüssel]
Zurück in Belgien, beendete Charon sein vor der Verhaftung begonnenes Medizinstudium und wirkte auch als medizinischer Gutachter für Kriegsopfer. 1948 war er Mitbegründer des Amicale des Prisonniers Politiques Rescapés de Wolfenbüttel (belgischer Überlebendenverband der politischen Gefangenen Wolfenbüttels). Der Überlebendenverband hatte für seine Mitglieder wichtige Aufgaben als Kommunikationsort für Verfolgungs- und Hafterfahrungen, als Interessenvertretung, unter anderem für soziale und medizinische Hilfen sowie für die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen. Die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel verfügt über den Nachlass von Dr. André Charon, der auch für das das Team des Projekts „ewige Zuchthäusler“ eine herausragende Quelle zur Thematik der Anerkennung und Entschädigung von ehemaligen Strafgefangenen in Belgien darstellt.
Die Kranzniederlegung zum Jahrestag der Befreiung findet öffentlich am 16.04.2023 auf dem Hauptfriedhof Wolfenbüttel in der Lindener Straße am Kubus der Erinnerung, Gräberfeld 13A, statt.
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